Recht ohne Ethik bzw. Ethik über dem Recht?
Die bisher dargestellte Parallelität zwischen Recht und Ethik gibt es aber nicht immer. Das Beispiel aus der Corona-Krise dafür ist das Hamstern.
Rechtlich ist die Beurteilung eher einfach. Es gilt die Vertragsfreiheit: Wenn und soweit ein Verkäufer ohne Einschränkungen hundert Packungen Toilettenpapier zum Verkauf stellt, darf ich dieses Angebot rechtlich annehmen, habe damit einen Kaufvertrag und ein Recht auf Aushändigung der gekauften Ware. Bei moralischer Betrachtung zeige ich mich mit diesem rechtlich zulässigen Vorgehen indessen als rücksichtsloser Egoist beziehungsweise als rücksichtslose Egoistin. Ich verstoße gegen das grundlegendste (welt)ethische Prinzip, die Goldene Regel.
An dem Beispiel zeigen sich auch einige Eigenheiten der moralischen Regeln:
(1) Wir sind nicht selten versucht, sie zu brechen, vor allem, wenn Angst im Spiel ist; die meisten Menschen beachten sie am Ende aber doch.
(2) Immer bieten sie einen Maßstab zur Beurteilung von Verhalten und geben damit Orientierung, wenn auch ohne äußeren Zwang.
Weil uns allen oder den allermeisten Menschen das Prinzip der Gegenseitigkeit bewusst und in unserem Gewissen moralisch abgebildet ist, konnte Hamstern moralisch geächtet werden. Nicht Jede/r hat grenzenlos gehamstert und wenn, dann eher verschämt. Und umgekehrt: Solidarität und Rücksichtnahme wurden wieder als moralische Kategorien diskutiert und vielfach auch gelebt.
Zwischenstaatlichkeit und Vertrauen
Hamstern kann als Vorsorge für das Eigene oder aber als Ausdruck eines überzogenen, unvernünftigen Egoismus gesehen werden. Das gab und gibt es leider nicht nur im zwischenmenschlichen, sondern auch im zwischenstaatlichen Bereich. So hat Deutschland etwa zeitweise den Export medizinischer Schutzausrüstung blockiert, die polnische Regierung soll den Export von Desinfektionsmitteln trotz langjähriger Lieferverträge gestoppt haben und die USA haben wohl Medizinprodukte zu sich umgelenkt.
Der Wettlauf des Egoismus zwischen den Staaten war schlimm, aber auch er war nicht grenzenlos. Und die meisten Unternehmen haben schnell begriffen, dass es zwar rechtlich zulässig wäre, global benötigte Ware nur an den Meistbietenden oder Mächtigsten zu liefern; sie haben aber eingesehen, dass sie sich mit moralisch anstößigem Verhalten gerade in der Krise in einer Weise schaden würden, die ein kurzfristiger finanzieller Vorteil nicht auszugleichen vermag. Langjährige Kundenbeziehungen wurden als Wert erkannt und haben meist gehalten.
Pacta sunt servanda. Dieses römisch-rechtliche Prinzip ist ein juristischer Ausdruck des zentralen Werts der Gegenseitigkeitsregel. Und damit verbindet sich ein Wort, ohne das nicht nur die Wirtschaft, sondern Zusammenleben überhaupt nicht gut funktionieren kann: Vertrauen.
Wir vertrauen täglich, ja unentwegt. Wir vertrauen auf Institutionen, auf Verfahren und auf Menschen. Ohne Vertrauen auf die Einhaltung der Verkehrsregeln wäre Autofahren der helle Wahnsinn. Kontrolle ist gut, aber Vertrauen ist besser, weit besser. Nur ein krankes, menschenfeindliches System kann das umgekehrt bewerten – und es wird scheitern.
Yuval Noah Harari, der große Denker und Autor von Weltbestsellern wie Eine kurze Geschichte der Menschheit oder Homo Deus, hat schon 15. März 2020 im Time Magazin einen Aufsatz zur Corona-Krise veröffentlicht, in dem er auf das Problem des Vertrauensverlustes eingeht:
“Today humanity faces an acute crisis not only due to the coronavirus, but also due to the lack of trust between humans. To defeat an epidemic, people need to trust scientific experts, citizens need to trust public authorities, and countries need to trust each other.”
An einer weiteren Stelle spricht er das Problem der internationalen Führung an. Er geht davon aus, dass wir ohne Vertrauen und internationale Solidarität nicht in der Lage sein werden, die Coronavirus-Epidemie zu stoppen und in Zukunft wahrscheinlich noch mehr solcher Epidemien erleben werden. In der Krise sieht Harari aber auch eine Chance:
“Without trust and global solidarity we will not be able to stop the coronavirus epidemic, and we are likely to see more such epidemics in future. But every crisis is also an opportunity. Hopefully the current epidemic will help humankind realize the acute danger posed by global disunity… To take one prominent example, the epidemic could be a golden opportunity for the E.U. to regain the popular support it has lost in recent years. “
Wir Bürger*innen haben die Pflicht, mit der Krise ethisch verantwortungsbewusst umzugehen. Wir sollten aus ihr lernen, welche Vorräte man für künftige Krisen anlegt – und damit meine ich keine Vorräte an Hygieneartikeln und Nudeln. Am Wichtigsten bleibt die Ressource Vertrauen; sie gedeiht nur auf werthaltigem Boden.