Globale Ethische Standards

Erklärung zum Weltethos

Zwischen den Religionen dieser Welt gibt es bei allen Unterschieden grundlegende ethische Gemeinsamkeiten: einen minimalen Grundkonsens bezüglich verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und moralischer Grundhaltungen, der die Grundlage für ein gemeinsames Weltethos bildet. Dies beschreibt Hans Küng in seinem Buch „Projekt Weltethos“ (1990) umfassend und wurde 1993 in der „Erklärung zum Weltethos“ festgehalten. 

 

Das Bild zeigt eine große Gruppe von Menschen in bunten Gewändern beim Parlament der Weltreligionen für Weltethos Tübingen, alle blicken in die Kamera.

Jede Schule kann zur Weltethos-Schule werden!  An einer Weltethos-Schule lernen Lehrer*innen, Schüler*innen sowie Eltern mit- und voneinander und wachsen so zu einer Gemeinschaft auf Basis der Weltethos-Werte zusammen. Denn die Weltethos-Idee bietet ein Dach, unter dem eine von allen mitgetragene, werteorientierte Schulkultur geprägt und gelebt wird. Lesen Sie auf dieser Seite mehr über Weltethos-Schulen.

Interreligiöser Dialog

Das parlament der Weltreligionen

Das erste sogenannte „Parlament der Weltreligionen“ fand 1893 statt, am Rande der Weltausstellung von Chicago. Dort kamen erstmals Vertreter*innen der Weltreligionen zusammen, um sich über den Stellenwert von Glaube und Spiritualität in der modernen Welt auszutauschen. Diese bis dahin kaum für möglich gehaltene Zusammenkunft markierte den Beginn der modernen interreligiösen Bewegung. 

An dieses Ereignis sollte 100 Jahre später erinnert werden, als über 7.000 Menschen aus einem weiten Spektrum der Religionsgemeinschaften und spirituellen Gruppierungen aus aller Welt wiederum in Chicago zusammenkamen. Bei diesem „zweiten“ Parlament der Weltreligionen waren die Teilnehmenden herausgefordert, kritisch und zukunftsweisend über die Rolle von religiösen und spirituellen Gemeinschaften bei der Suche nach kreativen Lösungen für die drängendsten Weltprobleme nachzudenken. Die Unterzeichnung der „Erklärung zum Weltethos“ spielte dabei eine entscheidende Rolle. Warum aber hat es der Rat des Parlaments der Weltreligionen gewagt, eine solche Weltethos-Erklärung ausarbeiten zu lassen? Was hat dazu geführt? 

Sri Chinmoy eröffnet mit Meditation das Weltparlament der Religionen in Chicago 1993.
Urheber: D.Alaimo, keine Änderungen vorgenommen
Das Bild zeigt das Logo des Parlament der Weltreligionen
Auf dem weg zum weltethos

Aufruf zu einem ethischen grundkonsens

Während einer Vortragsreise in Kanada und den USA im Jahr 1989 erfuhr Hans Küng von den Plänen für ein zweites Parlament der Weltreligionen 1993 in Chicago. Bei seinem Vortrag an der University of Chicago rief er die Verantwortlichen dieses Parlaments dazu auf, erstmals in der Religionsgeschichte einen „ethischen Konsens” der Religionen zu formulieren und zu verkünden. Len Swidler, Professor an der Temple University Philadelphia, unterstützte Hans Küng und verfasste einen Aufruf, in dem er die baldige Abfassung einer „Erklärung zu einem Weltethos” forderte. Bedeutende Theolog*innen und Religionswissenschaftler*innen weltweit unterzeichneten dieses Dokument und unterstützten diesen Aufruf.  

Im Februar 1992 reiste der „Executice Director“ des Parlaments der Weltreligionen nach Tübingen und bat Hans Küng, eine „Erklärung zum Weltethos“ auszuarbeiten. Hans Küngs Textentwürfe wurden in Küngs internationalem und interreligiösem Netzwerk diskutiert; der fertige Text wurde den Delegierten beim Parlament im September 1993 in Chicago vorgelegt.

Ein visionäres Statement

Werte, die verbinden

Wie zu erwarten, wurde Küngs Textentwurf am Parlament intensiv diskutiert. Bei allen unterschiedlichen Sichtweisen und unter Berücksichtigung mancher Einwände gelang es schließlich, dass sich die Teilnehmenden auf ein gemeinsames Dokument verständigten. Es wurde am 4. September 1993 als „Erklärung zum Weltethos“ verabschiedet und von einer großen Zahl ausgewählter Delegierter – allen voran der Dalai Lama – unterzeichnet. 

Damit legte das Parlament ein visionäres Statement von fundamentalen ethischen Prinzipien vor, die von den religiösen und humanistischen Traditionen der Welt geteilt werden. Ausgehend von den Prinzipien „Menschlichkeit“ und „Gegenseitigkeit“ (die „Goldene Regel“) nennt diese Erklärung die Werte Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Partner­schaft.

Beim 8. Parlament der Weltreligionen in Toronto (2018) wurde die Weltethos-Erklärung um eine fünfte Weisung zum Thema „Ökologische Verantwortung” als gemeinsames Desiderat der Weltreligionen erweitert. Damit trägt das Parlament den weltweiten gesellschaftlichen und politischen Diskussionen um den Klimawandel Rechnung. 

Das Bild zeig eine große Leinwand hinter der Bühne bei der Plenumsveranstaltung beim 8. Parlament der Weltrelgionen in Toronto für Weltethos Tübingen.

Die Einführung Lesen

Einblick in die Erklärung zum Weltethos

Beim Parlament von 1993 hat ein Redaktionskomitee des „Council“ des Parlaments zu publizistischen Zwecken als Zusammenfassung der Weltethos-Erklärung eine „Einführung“ verfasst, die dann der eigentlichen Erklärung vorangestellt wurde. Dieser Text wurde auch bei der feierlichen öffentlichen Abschlussveranstaltung am 4. September 1993 öffentlich verlesen.

Die Welt liegt in Agonie. Diese Agonie ist so durchdringend und bedrängend, dass wir uns herausgefordert fühlen, ihre Erscheinungsformen zu benennen, so dass die Tiefe unserer Besorgnis deutlich werden mag.

Der Friede entzieht sich uns – der Planet wird zerstört – Nachbarn leben in Angst – Frauen und Männer sind entfremdet voneinander – Kinder sterben! Das ist abscheulich!

Wir verurteilen den Missbrauch der Ökosysteme unserer Erde.

Wir verurteilen die Armut, die Lebenschancen erstickt; den Hunger, der den menschlichen Körper schwächt; die wirtschaftlichen Ungleichheiten, die so viele Familien mit Ruin bedrohen.

Wir verurteilen die soziale Unordnung der Nationen; die Missachtung der Gerechtigkeit, welche Bürger an den Rand drängt; die Anarchie, welche in unseren Gemeinden Platz greift; und den sinnlosen Tod von Kindern durch Gewalt. Insbesondere verurteilen wir Aggression und Hass im Namen der Religion.

Diese Agonie muss nicht sein. Sie muss nicht sein, weil die Grundlage für ein Ethos bereits existiert. Dieses Ethos bietet die Möglichkeit zu einer besseren individuellen und globalen Ordnung und führt die Menschen weg von Verzweiflung und die Gesellschaften weg vom Chaos.

Wir sind Frauen und Männer, welche sich zu den Geboten und Praktiken der Religionen der Welt bekennen:

Wir bekräftigen, dass sich in den Lehren der Religionen ein gemeinsamer Bestand von Kernwerten findet und dass diese die Grundlage für ein Weltethos bilden.

Wir bekräftigen, dass diese Wahrheit bereits bekannt ist, aber noch mit Herz und Tat gelebt werden muss.

Wir bekräftigen, dass es eine unwiderrufbare, unbedingte Norm für alle Bereiche des Lebens gibt, für Familien und Gemeinden, für Rassen, Nationen und Religionen. Es gibt bereits uralte Richtlinien für menschliches Verhalten, die in den Lehren der Religionen der Welt gefunden werden können und welche die Bedingung für eine dauerhafte Weltordnung sind.

Wir erklären: Wir sind alle voneinander abhängig. Jeder von uns hängt vom Wohlergehen des Ganzen ab. Deshalb haben wir Achtung vor der Gemeinschaft der Lebewesen, der Menschen, Tiere und Pflanzen, und haben Sorge für die Erhaltung der Erde, der Luft, des Wassers und des Bodens.

Wir tragen die individuelle Verantwortung für alles, was wir tun. All unsere Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen haben Konsequenzen.

Wir müssen andere behandeln, wie wir von anderen behandelt werden wollen. Wir verpflichten uns, Leben und Würde, Individualität und Verschiedenheit zu achten, so dass jede Person menschlich behandelt wird – und zwar ohne Ausnahme. Wir müssen Geduld und Akzeptanz üben. Wir müssen fähig sein zu vergeben, indem wir von der Vergangenheit lernen, aber es niemals zulassen, dass wir selber Gefangene der Erinnerungen des Hasses bleiben. Indem wir unsere Herzen einander öffnen, müssen wir unsere engstirnigen Streitigkeiten um der Sache der Weltgemeinschaft willen begraben und so eine Kultur der Solidarität und gegenseitigen Verbundenheit praktizieren.

Wir betrachten die Menschheit als unsere Familie. Wir müssen danach streben, freundlich und großzügig zu sein. Wir dürfen nicht allein für uns selber leben, müssen vielmehr auch anderen dienen und niemals die Kinder, die Alten, die Armen, die Leidenden, die Behinderten, die Flüchtlinge und die Einsamen vergessen. Niemand soll jemals als Bürger zweiter Klasse betrachtet oder behandelt oder, in welcher Weise auch immer, ausgebeutet werden. Es sollte eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Mann und Frau geben. Wir dürfen keinerlei sexuelle Unmoral begehen. Wir müssen alle Formen der Herrschaft oder des Missbrauchs hinter uns lassen.

Wir verpflichten uns auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit, des Respekts, der Gerechtigkeit und des Friedens. Wir werden keine anderen Menschen unterdrücken, schädigen, foltern, gar töten und auf Gewalt als Mittel zum Austrag von Differenzen verzichten.

Wir müssen nach einer gerechten sozialen und ökonomischen Ordnung streben, in der jeder die gleiche Chance erhält, seine vollen Möglichkeiten als Mensch auszuschöpfen. Wir müssen in Wahrhaftigkeit sprechen und handeln sowie mit Mitgefühl, indem wir mit allen in fairer Weise umgehen und Vorurteile und Hass vermeiden. Wir dürfen nicht stehlen. Wir müssen vielmehr die Herrschaft der Sucht nach Macht, Prestige, Geld und Konsum überwinden, um eine gerechte und friedvolle Welt zu schaffen.

Die Erde kann nicht zum Besseren verändert werden, wenn sich nicht das Bewusstsein der einzelnen zuerst ändert. Wir versprechen, unsere Wahrnehmungsfähigkeit zu erweitern, indem wir unseren Geist disziplinieren durch Meditation, Gebet oder positives Denken. Ohne Risiko und ohne Opferbereitschaft kann es keine grundlegende Veränderung in unserer Situation geben. Deshalb verpflichten wir uns auf dieses Weltethos, auf Verständnis füreinander und auf sozialverträgliche, friedensfördernde und naturfreundliche Lebensformen.

Wir laden alle Menschen, ob religiös oder nicht, dazu ein, dasselbe zu tun.