19. Februar 2024

Tagung „Liberaler Islam“

Regenbogenfarben am Nachthimmel mit Symbolen des Islams.

Islamisches Glaubensleben ist vielfältig und organisiert sich in Deutschland in unterschiedlichen Institutionen. Dabei werden Forderungen nach einem liberalen Islam aus ganz unterschiedlichen Richtungen laut. Zugleich wächst die Zahl der Stimmen, die dieses Attribut für sich beanspruchen, aber auch derer, denen es übergestülpt wird. Doch welche Gruppen und Initiativen sind damit gemeint? Wie wird dieser Begriff dabei inhaltlich näher bestimmt? Was entspricht dem in der Glaubenspraxis von Muslim*innen? Wie werden sich als „liberal“ verstehende Glaubensdeutungen und -praxen in der Öffentlichkeit und im Feld innerislamischer Vielfalt wahrgenommen?

Auf der Tagung „Liberaler Islam“, organisiert von der Stiftung Weltethos und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, beleuchteten und diskutierten rund 40 Akteur*innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern am 6. Februar 2024 diese und viele weitere Fragen.

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WAS BEDEUTET LIBERALER ISLAM?

DER UMGANG MIT DEM BEGRIFF „LIBERAL“

Die Religionswissenschaftlerin Leyla Jagiella, Mitglied im Liberal-Islamischen Bund (LIB) und tätig bei der Muslimischen Akademie Heidelberg, setzte sich in ihrem einführenden Vortrag kritisch mit dem durchaus umstrittenen Begriff „liberal“ und seinen unterschiedlichen Dimensionen auseinander. Besonders im englischsprachigen Raum werde „liberal“ nicht selten abwertend verwendet. Im muslimischen Kontext sei der Begriff fast ausschließlich im Deutschen anzutreffen, während in anderen Sprachen Bezeichnungen wie „progressive“ oder „inclusive“ gängiger seien.

Der Begriff „liberal“ löst sehr unterschiedliche Reaktionen hervor. Jagiella erläuterte, wie „liberal“ als antimuslimischer Kampfbegriff gebraucht werde, um mit der Forderung nach liberalem Islam Muslim*innen zu stigmatisieren. Dies finde sich in Äußerungen von Ayaan Hirsi Ali ebenso wie im gesellschaftlichen Diskurs nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023, in dem Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus gegeneinander ausgespielt würden. In der Folge grenzten sich viel Muslim*innen vom Begriff „liberal“ ab.

Zwei Frauen sitzen am einem Tisch und lächeln sich gegenseitig an.
Eine Frau steht an einem Rednerpult und spricht zum Publikum.

LIBERALER ISLAM IN DEUTSCHLAND

ZENTRALE PERSONEN UND INITIATIVEN

Prägende Person bei der Herausbildung eines liberalen Islam ist Amina Wadud: Sie wurde dafür berühmt, dass sie 2005 als Frau das Gebet einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe anleitete. Leyla Jagiella stellte den Verein Säkularer Islam Hamburg (VSI) um Necla Kelek vor sowie die von Seyran Ateş gegründete Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, die neben dem LIB eine der erfolgreichsten Initiativen ist. Daneben gebe es viele weitere Initiativen, die jedoch nach kurzer Zeit wieder verschwanden. Für die Entwicklung liberal-muslimischer Stimmen in Deutschland und auch des LIB sei Rabeya Müller (Islamwissenschaftlerin und Imamin) von entscheidender Bedeutung, die nach ihrer Konversion zum Islam in den 1970er Jahren schon früh zentrale Gedanken in den Diskurs eingebracht habe. Zusammen mit Lamya Kaddor (Bundestagsabgeordnete) war sie auch an der Gründung des LIB im Jahr 2010 beteiligt.

LIBERAL-ISLAMISCHER BUND

DAS AUFGREIFEN WICHTIGER FRAGEN

2010 wurde der „Liberal-Islamische Bund (LIB)“ gegründet, dem 7 Gemeinden mit rund 300 Mitgliedern angehören. Trotz widerstreitender Ideen und Positionen innerhalb des LIB teilten die Mitglieder eine Reihe von Grundprinzipien eines liberalen und progressiven Islamverständnisses, so Leyla Jagiella. Hierzu zählten u.a. eine unvoreingenommene Auslegung religiöser Schriften, die den historischen und sozialen Kontext einbezieht, umfassende Geschlechtergerechtigkeit, die Ablehnung von Gewalt und der Einsatz für Verfolgte und gegen jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Inspiriert ist die Bewegung vom liberalen Judentum, das bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht.

Mit seiner liberalen Ausrichtung ist der LIB wichtig für Musliminnen und Muslime. Die liberalen islamischen Organisationen sind klein: Islamwissenschaftler Dr. Hussein Hamdan, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, traut ihnen aber durchaus zu, das muslimische Leben in Deutschland zu beeinflussen.

Denn der liberale Islam würde die weitaus großen, etablierten islamischen Verbände vor große politische, gesellschaftliche Herausforderungen stellen. „Die großen Verbände müssen Antworten auf die Fragen liefern, die der liberale Islam aufwirft“, sagt Hamdan. Zum Beispiel wenn eine Muslimin mit einem Nicht-Muslim religiös getraut werden möchte.

Eine Frau und ein Mann sitzen an einem Tisch und diskutieren miteinander.
Zwei Männer sitzen vor Mikrofonen und diskutieren miteinander.

DER LIBERALE ISLAM IN POLITIK, MEDIEN UND ÖFFENTLICHKEIT

EINE STIMME UNTER VIELEN

Im Zentrum der Tagung stand u.a. die Frage nach dem Verhältnis des liberalen Islam zu anderen islamischen Ausrichtungen und der Gesellschaft. Der ZDF-Journalist und Islamwissenschaftler Abdul-Ahmad Rashid, bekannt als Moderator des „Forums am Freitag“ und exzellenter Kenner der Islamlandschaft in Deutschland, sprach abschließend über den liberalen Islam in Politik, Medien und Öffentlichkeit. Seine ursprüngliche Hoffnung, dass sich der LIB zu einer Massenbewegung entwickeln würde, wurde enttäuscht, was er auch auf die geringe Bereitschaft liberaler Muslim*innen für verbandliches Engagement zurückführt. Somit werde der LIB auch künftig nur eine Stimme unter vielen im muslimischen Deutschland bleiben. Die Gründung einer eigenen Moschee hingegen sei nicht absehbar, obwohl gerade solche Räume und Strukturen entscheidend für die Entwicklung wären. Folglich sei in der jüngeren Vergangenheit die von Seyran Ateş gegründete und zum Zeitpunkt der Tagung bis auf Weiteres geschlossene Ibn-Rushd-Goethe-Moschee medial viel stärker wahrgenommen worden als der LIB. Dafür, dass es zwischen beiden Initiativen keine Zusammenarbeit gebe, seien neben inhaltlichen Differenzen auch persönliche Gründe verantwortlich. Den Blick der anderen islamischen Verbände auf den LIB beschrieb Rashid als distanziert bis ablehnend. Die anfängliche Sorge vor neuer Konkurrenz sei mit der Zeit aber einer gewissen Gleichgültigkeit gewichen. Er gehe nicht davon aus, dass sich der LIB in der Zukunft stark weiterentwickeln werde. Rashid kritisierte auch, dass viele Muslim*innen inzwischen medial schnell zu Unrecht mit dem Label „liberal“ versehen würden, etwa allein deshalb, weil sie einen konservativen Verband verlassen haben.

Referent*innen:

  •  Dr. Mahmoud Abdallah, Zentrum für Islamische Theologie, Universität Tübingen
  •  Leyla Jagiella, Liberal-Islamischer Bund e.V., Muslimische Akademie Heidelberg
  •  Annika Mehmeti, Liberal-Islamischer Bund e.V.
  • Abdul-Ahmad Rashid Journalist, Redaktion Kirche und Leben, ZDF

Tagungsleitung:

  • Dr. Christian Ströbele, Fachbereich Interreligiöser Dialog, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
  •  Dr. Hussein Hamdan, Fachbereich Muslime in Deutschland, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
  • Dr. Theresa Beilschmidt, Bereich Interreligiöses und Gesellschaft, Stiftung Weltethos

Die Tagung ist eine Kooperation der Stiftung Weltethos mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Rahmen der Veranstaltungsreihe zur innerislamischen Vielfalt bzw. zu islamischen und islamstämmigen Minderheiten. In dieser Reihe haben bereits folgende Tagungen stattgefunden:

  • 2020 Aleviten in Deutschland

  • 2022 Ahmadiyya in Deutschland

  • 2023 Sufismus in Deutschland

Ansprechpartnerin

Haben Sie noch Fragen?

Dr. Theresa Beilschmidt
Bereich Interreligiöses und Gesellschaft
Tel.: +49 (0)7071 400 53 - 13
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