4. April 2024

Wäre die Welt friedlicher ohne Religion?

Eine helle Taube fliegt durch die Stadt.

Die islamistische Hamas massakriert wahllos Menschen, Patriarch Kyrill I. erklärt den russischen Überfall auf die Ukraine zum Heiligen Krieg, Hindunationalisten brennen christliche und muslimische Dörfer nieder und buddhistische Nationalisten verüben Pogrome an den Rohingya. Krieg und Terror, Mord und Totschlag rund um den Globus, und allzu oft im Namen eines Gottes, einer Religion. Kein Wunder, dass viele Menschen glauben, die Welt wäre friedlicher ohne jegliche Religionen. Aber wäre sie das wirklich? Hätten wir dann tatsächlich, wie der britische Bestsellerautor Ian McEwan meint, „eine Welt voller Demut vor der Heiligkeit des Lebens“?

IM KAMPF UM DAS HÖHERE

Religion im (Werte-)Konflikt

Zweifellos tragen religiöse Akteure zur Verschärfung und Verlängerung von Gewaltkonflikten bei. Doch in den seltensten Fällen sind religiöse Überzeugungen oder Differenzen die Ursache von Konflikten. Darüber ist sich die Friedensforschung weitgehend einig. Doch um die Rolle von Religionen in Konflikten zu verstehen, ist es wichtig, zunächst die Mechanismen von Konflikten zu verstehen. 

Vielmehr wird Religion benutzt, um Interessenkonflikte ideologisch aufzuladen und in Wertekonflikte umzuwandeln. Interessenkonflikte drehen sich bspw. um Land, Bodenschätze oder Macht. In Wertekonflikten hingegen geht es um eine „höhere Idee“, die über persönliche Interessen und das eigene physische Überleben hinausgeht. Wertekonflikte drehen sich um jenes, was für mich – als Individuum oder Gruppe – „wert-voll“ ist, wie Überzeugungen, Weltanschauungen und kulturelle Identitäten. In solchen Wertekonflikten lassen sich Menschen viel eher zum gewaltsamen Kampf mobilisieren; ihre Einsatzbereitschaft, ihre Gewaltbereitschaft und nicht zuletzt ihre Opferbereitschaft steigen ins fast Grenzenlose. 

In Interessenkonflikten gibt es zumeist eine „rote Linie“. Wird diese erreicht, beginnen die Konfliktparteien, Anführer wie Anhänger, abzuwägen: Was kann ich gewinnen und was verlieren? Was sind die Chancen und was die Risiken? Erscheinen diese Risiken zu groß oder unkalkulierbar, wird von einem gewaltsamen Konflikt eher Abstand genommen. In Wertekonflikten ist diese „rote Linie“ jedoch verschwunden oder zumindest sehr weit nach oben verschoben. Denn hier geht es um etwas „Höheres“, Größeres, um alles oder nichts, ohne Kompromisse. Und im Kampf für dieses größere Ziel gilt jeder Einsatz und jedes Opfer als angemessen, sogar gefordert – und jegliche Gewalt als erlaubt. 

Konfliktpotenziale

Die macht der ideologien

Höchste Einsatzbereitschaft, Gewaltbereitschaft und Opferbereitschaft – diese Effekte in Wertekonflikten haben Herrschende und Mächtige schon vor Jahrtausenden erkannt. Und darum waren und sind sie bemüht, Interessenkonflikte ganz gezielt in Wertekonflikte zu transformieren. Diese Transformation erfolgt zumeist durch Aufladung verschiedener säkularer Ideologien: An erster Stelle Nationalismus, aber auch Separatismus, Ethnizismus, Kommunismus u.a.. Wobei auch im Namen von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten Gewalt begründet und legitimiert werden kann. 

Doch auch die „Ideologien“ der Religionen bieten sich zur Aufladung und Transformation an, und religiös aufgeladene Konflikte sind besonders gefährlich. Denn dann geht es nicht mehr nur um meine Werte oder Überzeugungen, sondern um Gut und Böse, um einen Kampf der Guten (wir!) gegen die Bösen (die anderen), für „das Gute“ und gegen „das Böse“. In solch einem Kampf gilt Gewalt dann nicht nur als legitim, sondern wird sogar zur Pflicht, und die Gewaltlosigkeit gilt nun als Feigheit, als Verrat, als Sünde.

IM KAMPF VON GUT UND BÖSE

GEWALTLOSIGKEIT ALS SÜNDE

Eine religiöse Aufladung von Konflikten ist möglich, da die zentralen Schriften aller großen Religionen Überlieferungen enthalten, in denen Gewalt positiv konnotiert, als göttlicher Wille dargestellt oder sogar von Gott selbst gefordert wird. Politische und religiöse Autoritäten können auch heute noch auf diese Texte zurückgreifen, um ihre Gewalt zu legitimieren. Dass dabei freilich deren theologischer, kultureller oder politischer Kontext ignoriert werden muss, schert dann nur wenige (die über die nötige religiöse Bildung und Skepsis verfügen). Denn was ein ewiger Gott damals gesagt oder getan hat, kann das heute falsch sein?

So bieten sich Religionen zwar zur Begründung und Eskalation von Konflikten an, sind dazu aber keineswegs erforderlich. Wenn es keine Religionen gäbe, würde es immer noch genügend säkulare Ideologien und Begründungen geben, um Konflikte zu schüren und Gewalt oder Krieg zu legitimieren. Das zeigt zum Beispiel Putins Motiv einer „Russki Mir“ (Russischen Welt). Und vergessen wir nicht: Die überwältigende Mehrheit der Kriegs- und Gewaltopfer im 20. und 21. Jahrhundert waren Opfer von säkular begründeten Konflikten: vom Ersten und Zweiten Weltkrieg über die Gewaltregime von Stalin, Mao und Pol Pot bis hin zu Konflikten in Vietnam, Ruanda, Kongo und nicht zuletzt in der Ukraine.

Buddhistische Mönche führen den Friedensmarsch Dhammayietra an.
Buddhistische Mönche führen den Friedensmarsch Dhammayietra an.
Konkrete Potenziale

Religionen als Friedensstifter

Die Welt wäre also mitnichten friedlicher ohne Religion – im Gegenteil! Denn neben dem Potenzial für Konflikte und Gewalt wohnt Religionen auch ein enormes, oft übersehenes Friedenspotenzial inne. Sie haben Kompetenzen, Erfahrungen, spezifische Möglichkeiten und Erfolge in der Deeskalation von Konflikten und in der Überwindung von Krieg und Gewalt! Die Beispiele sind vielfältig: 

  • Im mosambikanischen Bürgerkrieg mit Millionen von Opfern vermittelte die katholische Laienbewegung Sant’Egidio 1992 einen umfassenden Friedensvertrag.
  • Der Ausbruch eines Krieges von unkalkulierbarem Ausmaß zwischen Argentinien und Chile wurde 1978 durch eine Intervention des Vatikans in letzter Minute angewendet und ein „Friedens- und Freundschaftsvertrag“ ausgehandelt.
  • Während des furchtbaren Genozids in Ruanda im Jahr 1994 war es die muslimische Gemeinschaft vor Ort, die sich fast kollektiv der Gewalt verweigerte und tausenden Flüchtenden Schutz bot, sie versteckte, mit Lebensmitteln versorgte und ihnen das Leben rettete.
  • Der philippinische Diktator Marcos wurde im Jahr 1986 durch eine friedliche Massenbewegung zu Fall gebracht, die vor allem von Kirchenvertretern initiiert und organisiert worden war.
  • Die liberianische Frauenfriedensbewegung, ein Zusammenschluss christlicher und muslimischer Fraueninitiativen, übte so lange Druck aus, bis der Bürgerkrieg eingedämmt und der despotische Herrscher Charles Taylor aus dem Amt gedrängt war.
  • In Kambodscha initiierte der buddhistische Mönch Maha Ghosananda im Jahr 1979 eine Friedens- und Versöhnungsbewegung nach der Schreckensherrschaft von Pol Pot und den Roten Khmer, die sich zu einer wichtigen Kraft in Politik und Gesellschaft entwickelte.
  • Im kolumbianischen Friedensprozess von 2012 bis 2016 spielten Kirchenvertreter eine maßgebliche Rolle als Vermittler hinter den Kulissen.
  • Die deutsch-französische Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zuerst und vor allem von den Kirchen beiderseits des Rheins angestoßen, lange bevor die Politik sich diesem Thema annahm. Und auch die „friedliche Revolution“ in der DDR wäre ohne das vielfältige Wirken der Kirchen kaum so (friedlich) zustande gekommen. 
Ein vertrauensvorschuss, der türen öffnet

Schlüssel zum frieden

Die Analyse dieser und Dutzender weiterer Beispiele[1] zeigt Erstaunliches: Religiöse Friedensakteure genießen oftmals einen Vertrauensvorschuss seitens der Konfliktparteien – über religiöse, kulturelle und ethnische Grenzen hinweg, selbst dann, wenn Konfliktparteien und Vermittler unterschiedlichen Religionen angehören. Ein Vorschuss, der Türen öffnet, mitunter nur einen Spalt breit, den es dann mit Klugheit und Beharrlichkeit zu weiten gilt. So eröffnen sich Räume, Handlungs- und Verhandlungsspielräume, in denen schließlich entscheidende Fortschritte in Friedensprozessen möglich sind. 

Natürlich ist das Vertrauen, das in religiöse Friedensakteure gesetzt wird, kein blindes Vertrauen. Es muss verdient werden. Eine hohe Sach- und Fachkompetenz ist dabei unerlässlich. Das bedeutet sowohl die genaue Kenntnis der Konflikte in ihrer Breite und Tiefe als auch Kompetenzen in der konstruktiven Konfliktbearbeitung. Und Friedensakteure müssen glaubwürdig sein in ihrem Reden und Handeln, um überhaupt als Vermittler akzeptiert zu werden. Doch der Vertrauensvorschuss beruht noch auf anderen Faktoren, die sich nicht so einfach aneignen lassen: 

  • Eine religiöse Friedensmotivation ist nachvollziehbar, da die Ideen der Gewaltverneinung und Versöhnung in allen religiösen Traditionen überliefert sind. Auch wenn man diese Überzeugungen nicht teilt, sind die Motive doch vertraut oder zumindest nicht völlig fremd.
  • Religiöse Akteure gelten vielfach als unabhängig, uneigennützig und fair. Korruption, Selbstbereicherung oder Vetternwirtschaft werden ihnen selten zugeschrieben.
  • Sie sind mit den Konfliktbeteiligten oft in einer Weise verbunden, die ihnen ein tieferes, emotionales Konfliktverständnis ermöglicht. Diese Verbundenheit beruht zumeist auf der gemeinsamen geografischen Herkunft, kann aber auch spiritueller Art sein.
  • Religiöse Akteure sind oftmals kompetenter und sprachfähiger gerade in tieferliegenden Konfliktdimensionen wie Schuld, Verletzung, Traumata, Ehre, Trauer, Verständigung oder Versöhnung.
  • Religiöse Friedenstifter gelten als ungefährlich, da sie nicht mit politischem, wirtschaftlichem oder gar militärischem Druck und Zwang arbeiten, sondern alleine auf ihre Überzeugungskraft angewiesen sind. Und schließlich gelten sie als beharrliche und verlässliche Akteure, die auch in großer Gefahr ihr Engagement nicht aufgeben und mitunter viele Jahre für Frieden kämpfen.

Der Vertrauensvorschuss für religiöse Akteure mag auf den ersten Blick überraschend erscheinen, entspricht aber durchaus einer rationalen Konfliktlogik. Säkulare Kräfte – ob Politiker, suprastaatliche Akteure oder Nichtregierungsorganisationen – haben es hier zumeist wesentlich schwerer. Sie sind in der Regel großem Misstrauen an ihren wahren Motiven, an vielleicht versteckten Interessen ausgesetzt, vor allem wenn sie aus dem Ausland kommen oder von dort finanziert werden.

Doch auch religiöse Akteure müssen sich des Vertrauensvorschusses als würdig erweisen und die positiven Zuschreibungen im Verlauf von Friedensprozessen bestätigen. Selbst wenn dies nicht immer gelingt, so sind die Erfolge doch zahlreich und beachtlich. Sie zeigen das enorme Friedenspotenzial, das Religionen eben auch innewohnt, und das noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Zu sehen ist eine weiße Friedenstaube vor blauem Hintergrund mit einem Ast im Mund.
Frieden durch religion

chance und verantwortung

Man muss weder religiös sein noch muss man Religionen mögen, um deren friedenspolitische Beiträge und Potenziale anzuerkennen. Da Religionen jedoch solche wichtigen Friedenskompetenzen aufweisen, muss uns daran gelegen sein, diese im Sinne des Friedens und zum Wohl der Menschen zu nutzen und in die Politik einzubinden. Denn dieses Potenzial ist Chance und Verantwortung zugleich:

Alle Religionsgemeinschaften sind aufgerufen, ihre Friedenskompetenzen stärker wahrzunehmen, professionell weiter zu entwickeln und proaktiv in Friedensprozessen anzubieten. Und die Politik ist gut beraten, solche religiösen Friedensakteure verstärkt in Friedensprozesse einzubeziehen, da sich die unterschiedlichen Kompetenzen und Möglichkeiten säkularer und religiöser Akteure hervorragend ergänzen können. Mehr noch, wie der ehemalige Bundesminister für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit, Gerd Müller, zutreffend erkannte: „Ohne den Beitrag der Religionen werden wir die globalen Herausforderungen nicht bewältigen können.“[2]

von Dr. Markus Weingardt

Quellen

Zum Nachlesen

[1] ausführlicher vgl. Markus Weingardt: Religion Macht Frieden. Bonn 2010.

[2] Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung BMZ: „Gemeinsam mehr erreichen“. Pressemitteilung vom 17.2.2016. 

 

 

Ansprechperson Frieden

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Dr. Markus Weingardt

Friedens- und Konfliktforscher
Tel.: +49 (0)7071 400 53-12
E-Mail: weingardt@weltethos.org