30. Oktober 2024
Was hält unsere Gesellschaft zusammen?

In einer Zeit, in der viele Menschen die Stabilität und den Wert unserer Demokratie infrage stellen, ist die Frage nach dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Polarisierung und Radikalisierung bedrohen nicht nur die demokratische Kultur, sondern auch den gesellschaftlichen Frieden.
Was hält uns also zusammen, wenn die Gesellschaft zusehends auseinanderzudriften droht, wenn Intoleranz und Ideologie zunehmend an den Grundfesten unserer Gemeinschaft rütteln?
1. Werte, die Verbinden
Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft beruht auf gemeinsamen Überzeugungen und Werten. Es ist das Kernthema der Stiftung Weltethos: den Menschen bewusst zu machen, dass bestimmte Werte für ein gelingendes Miteinander der Menschen unverzichtbar sind. Diese Werte müssen wir nicht neu erfinden, sondern sie sind seit Jahrtausenden bekannt. In der Menschheitsgeschichte haben Religionen, Philosophien und Weltanschauungen immer wieder die gleichen Fragen gestellt:
- Was sind die Voraussetzungen für ein wirklich „gutes” Leben?
- Was sind die Grundlagen für ein gelingendes Miteinander?
- Was sind die Bedingungen für richtiges und verantwortungsvolles Handeln in Gesellschaft und Welt?
Als Antwort auf diese Fragen haben die Menschen ethische Werte und Normen entwickelt, die zu allen Zeiten und in allen Kulturen vorkommen. So finden sich Werte, die in der Hebräischen Bibel, dem Neuen Testament und dem Koran als Gebote Gottes verankert sind, auch in den Religionen Indiens und der chinesischen Kultur und beschäftigen seit je her auch Philosophen und Humanisten. Seit jeher bilden sie die Grundlage für ein friedliches Miteinander, und deshalb sprechen wir von einem „Weltethos“, einem gemeinsamen Menschheitsethos.
Der Schweizer Theologe Hans Küng, Initiator des Projekts Weltethos und Mitgründer unserer Stiftung, hat diesen Begriff geprägt und aufgezeigt, welche Bedeutung gemeinsame Werte für unsere Gesellschaft haben. Er betonte:
Ohne einen minimalen Grundkonsens bezüglich bestimmter Werte, Normen und Haltungen ist weder in einer kleineren noch in einer größeren Gemeinschaft ein menschenwürdiges Zusammenleben möglich. Ohne einen solchen Grundkonsens, der immer neu im Dialog zu finden ist, kann auch eine moderne Demokratie nicht funktionieren.
Hans Küng


2. Werte vermitteln
Damit gemeinsame Werte gesellschaftlich wirksam werden, müssen sie immer wieder neu ausgehandelt und erfahrbar gemacht werden. Sie müssen erlebt und eingeübt werden, und schon Kinder und Jugendliche sollten die Erfahrung machen, dass sie sich bewähren und zu einem guten Füreinander und Miteinander beitragen.
Um diese Werte zu vermitteln, braucht es Bildungseinrichtungen, Vereine und andere Organisationen, die soziales und ethisches Lernen fördern. Als Lern- und Erfahrungsräume ermöglichen sie es jungen Menschen, den Wert von respektvollem und tolerantem Umgang zu erfahren und zu erkennen und die Bedeutung gemeinsamer Spielregeln über die Grenzen von Religionen und Kulturen hinweg zu verstehen.
3. Respekt Voreinander – wissen übereinander
Religionen spielen eine zentrale Rolle für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Sie besitzen eine starke gesellschaftliche und weltverändernde Kraft, die nicht nur das Privatleben von Milliarden Menschen weltweit prägt, sondern auch die Strukturen der Gesellschaften, in denen sie leben. In Deutschland, das durch Zuwanderung zunehmend multireligiös geworden ist, hängt der gesellschaftliche Frieden mehr denn je von der erfolgreichen Integration zugewanderter Menschen ab. Religiöse und kulturelle Isolation, Fundamentalismus und Extremismus sind Herausforderungen, die einer gelingenden Integration entgegenstehen.
Respekt voreinander und Wissen übereinander sind zentrale Voraussetzungen für ein gutes Miteinander: Das Wissen über Unterschiede und Gemeinsamkeiten, damit Vorurteile und Klischees erst gar nicht entstehen. Und solcher Respekt und solches Wissen sollte früh grundgelegt und im Zusammenleben vertieft werden. Ohne sie gibt es keine Sprachfähigkeit, keinen Dialog. Sie sind die Grundlage, auf der Brücken zwischen Religionen und Kulturen gebaut werden können. Und die Arbeit daran ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, deren Lösung Sachkenntnis, Geduld, Vertrauen und Kreativität erfordert.
Wo dies gelingt, schaffen Religionen einen kulturellen Mehrwert, der nur ihnen eigen ist. In den Religionsgemeinschaften kommen Menschen zusammen, die an etwas glauben, die gemeinsame Werte und Ideale teilen und die sich miteinander für ihre Überzeugungen einsetzen. Sie fördern Verbindlichkeit und Identifikation mit der Gemeinschaft und tragen so zum Zusammenhalt unserer Zivilgesellschaft bei. Diese integrative Kraft zu nutzen und das gute Neben- und Miteinander unterschiedlicher Weltanschauungen zu fördern, ist in unserer zunehmend globalisierten Welt bleibende Aufgabe einer jeden Gesellschaft – wie religiös oder säkular sie sich auch immer verstehen mag.
von Dr. Stephan Schlensog
