14. Mai 2025

Plädoyer für mehr Menschlichkeit und Verantwortung

Eine Frau steht an einem Rednerpult und spricht. Am Pult vorne ist das Logo der Universität Tübingen und das Logo der Stiftung Weltethos zu sehen.
Foto: Jörg Jäger/Universität Tübingen

„Was, wenn wir nicht mehr dem Lauten, Kalten, Gierigen nacheifern – sondern dem Zarten, Achtsamen, Menschlichen?“ Mit dieser Frage appelliert Natalie Amiri in der 16. Weltethos-Rede 2025 eindrucksvoll an universelle Werte, Demokratie und Menschlichkeit. In ihrer Rede zum Thema „Gefährdete Werte: Menschenrechte in einer destabilisierten Welte“ formuliert sie eine klare Botschaft: Demokratie lebt nur, wenn wir sie gemeinsam tragen. Amiri plädiert dafür, das Gute im Alltag wie im Globalen zu stärken – und Verantwortung nicht nur zu fordern, sondern selbst zu übernehmen.
Seit 25 Jahren lädt die Stiftung Weltethos gemeinsam mit der Universität Tübingen Personen aus Politik, Kultur, Wissenschaft, Religionen und öffentlichen Leben zur Weltethos-Rede an die Universität Tübingen ein.

Weltethos beginnt im Alltag

Wie gemeinsame werte unser miteinander stärken

Natalie Amiri räumt zu Beginn ein, dass der Begriff „Weltethos“ im ersten Moment sehr komplex, vielleicht auch unerreichbar und unrealistisch zu sein scheint. Dabei geht es im Grunde um etwas einfaches: „Es geht doch darum, wie wir miteinander leben wollen.“ Sicherheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit – diese Werte teilen Menschen weltweit, unabhängig von Religion oder Herkunft. Ob Christentum, Islam oder Judentum – ihre ethischen Grundsätze ähneln sich stark. Doch nicht nur die Religionen eint dieser Wertekanon. Auch säkulare Gesellschaften bauen auf dem Wunsch nach einem respektvollen und fairen Umgang miteinander auf. Weltethos ist kein abstrakter Begriff, sondern gelebter Alltag – im Zuhören, im Mitfühlen, im Handeln.

Zu sehen sind von links nach rechts: Die Rektorin der Universität Tübingen Prof. Karla Pollmann, die Journalistin Natalie Amiri, die Geschäftsführerin der Stiftung Weltethos Lena Zoller, der Präsident der Stiftung Weltethos Prof. Bernd Engler. Sie lächeln freundlich in die Kamera.
Foto: Jörg Jäger/Universität Tübingen
Eine Frau mit braunen Haaren und einem blauen Blazer steht an einem Rednerpult und spricht ins Mikrofon.
Foto: Jörg Jäger/Universität Tübingen

royava: Utopie im Überlebensmodus

Ein demokratisches Experiment verdient aufmerksamkeit

Amiri berichtet von ihrer Reise in die autonome kurdische Region Rojava in Nordsyrien – einem Ort, an dem Menschen trotz widrigster Bedingungen Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Ökologie leben. Was als Revolution der Hoffnung begann, ist heute geprägt von Stromausfällen, Wassermangel und türkischen Angriffen. Der Westen schweigt, die Bundesregierung vermeidet klare Positionen – aus Rücksicht auf die Türkei. Doch Rojava erinnert uns daran, wie viel Mut, Verzicht und Zusammenhalt eine funktionierende Gesellschaft benötigt. Und wie wenig die globale Politik bereit ist, echte Alternativen zu unterstützen.

 

Die Kraft eines Stücks Orange

Menschlichkeit als Erfahrungswert

Ein persischer Vater im Zug, der eine Orange teilt, wird zum Symbol für das, was Amiri „eine Kettenreaktion des Guten“ nennt. Die Szene, millionenfach auf Social Media geteilt, zeigt: Menschlichkeit braucht keine großen Taten, sondern Achtsamkeit im Kleinen. Teilen, Helfen, Sehen – das sind Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Gerade in Zeiten von Krisen, Krieg und Polarisierung ist es entscheidend, sich an das Verbindende zu erinnern. Wenn wir beginnen, einander wieder wirklich wahrzunehmen, entsteht ein Raum, in dem Demokratie gedeihen kann – ganz alltäglich, ganz konkret.

 

Viele Menschen sitzen hintereinander in Stuhlreihen. Sie klatschen Beifall.
Foto: Jörg Jäger/Universität Tübingen
Ein Frau hält in beiden Händen ein Mikrofon.
Foto: Jörg Jäger/Universität Tübingen

verantwortung statt doppelmoral

warum es eine wertebasierte politik braucht

Amiri kritisiert die westliche Außenpolitik: Menschenrechte dürfen nicht nur dann gelten, wenn sie ins geopolitische Kalkül passen. Die Repressionen im Iran, der Einsatz deutscher Waffen in Krisengebieten, das Schweigen zu Gräueltaten in Syrien – all das untergräbt unsere Glaubwürdigkeit. Eine echte wertebasierte Politik müsse unbequem sein dürfen, fordert Amiri. Sie müsse Ungerechtigkeit benennen, auch wenn sie von Partnerstaaten ausgeht. Wenn wir als Demokratie Vorbild sein wollen, braucht es Konsequenz, Mut – und die Bereitschaft, über wirtschaftliche und diplomatische Eigeninteressen hinauszudenken.

Demokratie ist kein Selbstläufer

Freiheit bewahren

Demokratie lebt nicht allein von Wahlen oder Institutionen, sondern vom aktiven Einsatz der Menschen. Natalie Amiri ruft dazu auf, sich einzumischen, Haltung zu zeigen, auch unbequeme Diskussionen zu führen. Denn Populismus gedeiht dort, wo Angst das Denken bestimmt. Journalismus, Bildung und Zivilgesellschaft müssten gestärkt werden, um einen aufgeklärten Diskurs zu ermöglichen. Amiri betont: Unsere Freiheit ist kein Zufall. Sie ist Ergebnis harter Kämpfe – und sie bleibt nur bestehen, wenn wir sie verteidigen. Mit Empathie, Mut zur Wahrheit und einem klaren Blick für das Wesentliche.

„Unsere Gesellschaft und unsere Werte sind es, die verantwortlich sind für den Erhalt unserer Demokratie. Sie überlebt nur durch Bürger*innen des Gemeinwesens, nicht allein durch Gesetze. (…) Gerade wir hier in Deutschland haben nun die große Aufgabe zu zeigen, dass es geht, die Demokratie zu bewahren. Aber dafür müssen viele Menschen Verantwortung übernehmen – nicht nur Politiker*innen. Wir alle – und das ist anstrengend.“

Zu sehen ist der Festsaal der Universität Tübingen. Er ist hell erleuchtet, fast alle Sitzplätze sind belegt.
Foto: Jörg Jäger/Universität Tübingen
Zwei Frauen stehen auf einer Bühne: Die recht Frau spricht in ein Handmikrofon, die linke Frau hört ihr zu.
Foto: Jörg Jäger/Universität Tübingen

Hoffnung als Haltung

wie zuversicht zum fundament für wandel wird

Trotz aller Krisen, trotz der dramatischen Zustände, die Amiri beschreibt, endet ihre Rede mit einem kraftvollen Appell zur Hoffnung. Sie erinnert an die iranischen Frauen, die für Freiheit ihr Leben riskieren, und an die Stärke derer, die auch unter widrigsten Umständen an Menschlichkeit festhalten. Amiri zitiert Margot Friedländer: „Schaut nicht auf das, was Euch trennt. Schaut auf das, was Euch verbindet. Seid Menschen, seid vernünftig.“ Amiris Botschaft: Demokratie braucht emotionale Verbundenheit – nicht nur Regeln. Wenn wir wieder auf das schauen, was uns verbindet, nicht trennt, können wir zum Vorbild werden. Für eine Welt, die Menschlichkeit über Macht stellt.

Dialog mit dem Publikum

Begegnung statt Mauern

Im Anschluss an die Rede stellte sich Amiri offen und spontan den zahlreichen Fragen aus dem Publikum. Moderiert wurde der Austausch von Lena Zoller, Geschäftsführerin der Stiftung Weltethos. Ein junger Mann schilderte seine fehlende Selbstwirksamkeit, wenn er insbesondere im ländlichen Raum das Gefühl habe, bei festgefahrenen Positionen nichts mehr ändern zu können. Amiri betonte, dass das Agieren von Angesicht zu Angesicht immer wichtig ist. Das heutige Grundproblem aller heutigen Konflikte sei, dass es keine Begegnungen mehr gebe, sondern nur noch Mauern. Diese müssten eingerissen werden.

Auf die Publikumsfrage, was sie an der Gefahr reize in Krisenregionen zu reisen, gab Amiri eine persönliche Antwort. An der Gefahr reize sie gar nichts, viel zu oft habe sie Angst vom Geheimdienst verhaftet zu werden. Ihre Herkunft und ihre Sprachkenntnisse würden ihr dabei helfen, Menschen eine Stimme zu geben, die keine hätten. Dies erfülle sie mit Sinn. Für sie sei klar: „Ich habe eine Verpflichtung, da zu sein.“

Zwei Frauen stehen vor einem Standmikrofon. Die vordere Frau trägt eine Brille, sie spricht ins Mikrofon. Sie sind umringt von sitzenden Menschen.
Foto: Jörg Jäger/Universität Tübingen
Zwei Frauen sitzen an einem Tisch mit Mikrofonen. Im Hintergrund ist das Rollup der Stiftung Weltethos zu sehen.
Foto: Jörg Jäger/Universität Tübingen

Werkstattgespräch mit Studierenden

die eigene rolle schaffen

Rund 30 Studierende der Medien-, Politik-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften der Universität Tübingen tauschten sich am Folgetag der 16. Weltethos-Rede mit Natalie Amiri aus. Dabei gab Amiri persönliche Einblicke in ihre Biografie, in ihre Arbeit als Journalistin und als Frau in Krisenregionen. Sie berichtete über Verantwortung und Herausforderungen im Journalismus: Warum es unerlässlich ist, für die Pressefreiheit zu kämpfen, welche Rolle Religionen bei Konflikten spielen und wie sie die Menschen mit ihrer Botschaft erreicht. Sie gab den Studierenden hilfreiche Tipps für den Berufseinstieg in den Auslandsjournalismus – aber auch, wie wichtig es ist, an sich zu glauben, für sich einzustehen und den eigenen Weg zu gehen. Dass jede und jeder die eigene Rolle nicht suchen, sondern schaffen muss. Und beeindruckte damit einmal mehr die Studierenden mit ihrem Optimismus und Mut, mit ihrer zuversichtlichen und hoffnungsvollen Haltung.

 

 

 

In Kooperation mit

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